Wir alle sind individuell und einzigartig. Die eine Person ist blond, die andere hat kurze Beine oder breite Schultern und die nächste hat vielleicht eine Zahnlücke oder eine besonders große Nase. Wir sind ein Zusammenspiel aus vielen unterschiedlichen Merkmalen, die uns charakterisieren und unsere Persönlichkeit ausmachen. Keine Frage, dass wir alle über irgendein Merkmal verfügen, mit dem wir „aus der Norm fallen“.
Manchmal aber sind die Merkmale, die uns von anderen unterscheiden, nicht äußerlich erkennbar, sondern zeigen sich durch die vielseitige Aktivität unseres Gehirns. Denn auch, wenn der Aufbau und die Struktur des Gehirns bei uns allen stark ähnelt (das männliche Gehirn ist übrigens mit durchschnittlich 1375g etwas schwerer als das weibliche Gehirn mit durchschnittlich 1245g), kann die Verarbeitung einzelner Reize und Informationen in den einzelnen Hirnregionen erheblich variieren. Diese Unterschiedlichkeit in der Hirnaktivität nennt man Neurodiversität.
Das Konzept der Neurodiversität ist verhältnismäßig jung und noch nicht einheitlich definiert. Grundsätzlich geht man jedoch davon aus, dass die Verarbeitungsprozesse und neurokognitiven Funktionen im Gehirn individuell verschieden ablaufen können. Genauer betrachtet verändert diese Perspektive die Frage, was pathologisiert und als psychisches Störungsbild gelabelt werden und was im Sinne der Neurodiversität als individuelles Persönlichkeitsmerkmal betrachtet werden darf. Ob wir neurotypisch oder neurodivergent sind, hängt davon ab, ob und wie sehr sich unsere Wahrnehmung, die Verarbeitung von Reizen und Informationen und das Verhalten innerhalb eines definierten Normbereichs bewegt. Als neurotypisch werden wir dann bezeichnet, wenn wir schulischen und beruflichen, gesellschaftlichen und sozialen Anforderungen mit einem ähnlichen energetischen und zeitlichen Aufwand so wie der größte Teil der Gesellschaft gewachsen sind.
Von Neurodivergenz spricht man, wenn eine der Komponenten, also die Wahrnehmung, die Reizverarbeitung oder das Verhalten sehr stark, wie z. B. im autistischen Spektrum, von der Norm abweicht.
In unserem Therapiezentrum am Stadtwald begleite ich immer wieder Klientinnen und Klienten, die sich im autistischen Spektrum bewegen. Sie kommen zu mir mit dem Wunsch, sich in Bezug auf ihr Denken, die Kommunikation mit anderen oder ihren Ausdruck unterstützen zu lassen und sich anpassen zu wollen. Doch geht es wirklich darum, sich anzupassen? Oder ist es nicht vielmehr wichtig zu verstehen, dass unsere Hirnbereiche unterschiedlich ausgeprägten Aktivitäten unterliegen können? Dass unsere Wahrnehmung nicht zuletzt genau deswegen so variabel ist und wir herausfinden dürfen, welche Bereiche unseres Gehirns stärker und welche schwächer ausgeprägt sind? Vielleicht verstehen wir dann, warum die einen jedes Instrument in einem Lied heraushören und Lärm nur schwer ertragen können und die anderen über einen extrem ausgeprägten Geruchssinn und eine hervorragende Menschenkenntnis verfügen.
Hier genauer hinzusehen hilft uns, toleranter miteinander zu sein und uns gegenseitig so zu akzeptieren, wie wir jeweils sind. Gleichzeitig hilft uns der genaue Blick auch, uns da zu trainieren, wo wir Unterstützung brauchen, um uns selbst auf diese Weise das Leben ein wenig zu erleichtern.